Herta Robinson

 

Zum erstenmal in meinem Leben sehe ich den Bodensee. Die Gärten von D. faszinieren mich. Die Nacht auf der Hütte ist kurz und melancholisch. Der nächste Tag wird warm. Trotzdem purzeln wir oben über den tiefen Altschnee, vergessen in der Schlucht unsere qualvollen Ängste und stürmen glücklich die schneefreien Südhänge empor. Der Abend gehört nach Gesellschaftsspielen den allge­meinen Eifersüchteleien. Nach Leistungsbereitschaft und friedlichem Sporttreiben sieht es überhaupt nicht aus. - Als die Sonne am Morgen den Nebel vertreibt, treffen wir die österreichischen Sportler. Die Schnitzel unserer Gastgeber sind so groß, dass sich die meisten meiner Mannschaft das Fleisch so kurz vor dem Wettkampf einpacken. Nur ich lasse mir das vorzügliche Mahl munden.

 

Er war irgendwie anders als die anderen, er fiel mir sofort auf. Zwar durfte er am Jugendvergleichs­kampf nicht teilnehmen, weil er ein Jahr zu alt war, aber eigentlich lief er mit allen Fasern seines Körpers mit. Er war beim Einlaufen dabei, gab Tipps und Zwischenzeiten, feuerte an - und - was so seltsam war - vor allem mich. Ich gewann die 600 Meter in 1:51 Minuten klar vor seinen Mädchen Verena und Dagmar. Ich ließ ihn von meiner Brezel beißen, gab ihm einen Apfel, dann teilten wir ein Di­zano und tauschten unsere Adressen.

 

Nach drei Wochen kommt eine Karte aus Wien. Fast habe ich Herta vergessen, als der erste Brief kommt. Plötzlich denkt sie Tag und Nacht an mich. Ihrem Freund Peter gibt sie den Laufpass. Ein Telegramm ruft mich in den Schwarzwald. Am Samstag oder Sonntag sei sie in L. Ich kann nicht kommen, es ist weit und mein Fahrrad ist alt. Wieder läuft sie auf dem Platz in D., jetzt 800 Meter in 2:38 Minuten. Ich bin nicht dabei. Sie fehlt mir.

 

Er schickte mir ein Bild in Uniform. Ich trug es immer bei mir, in einer Plastikhülle, damit es nicht verschmutzt wurde. Ich lud ihn ein, nach der Militärzeit bei uns einen  Urlaub zu verbringen. Von meinem ersten selbstverdienten Geld schickte ich Päckchen in die Kaserne. Seine Briefe gaben mir Kraft für das Laufen, einen  Trainingslagertest hatte ich mit sehr gut bestanden. Auch für die Landes­auswahl hatte ich mich qualifiziert. Ein gutes Jahr nach unserem Kennenlernen gab es wieder den Vergleichskampf mit unseren deutschen Freunden in D. Die Bahn war so schrecklich leer.

 

Ich schwanke zwischen Angst vor einem Wiedersehen und einer unbändigen Sehnsucht. Was ist ein winziger Augenblick voller Seligkeit in dem riesigen Meer der Tage? Wen hat sich Herta Robinson auf ihrer Insel als Traummann zusammengedacht? Ich liebe dieses fremde Mädchen nicht, und doch glaube ich, es lieben zu können. -  Lange höre ich nichts mehr von ihr. Vielleicht vergesse ich selbst das Schreiben. Ein wildes Urlaubsfeuer hat eine heiße Glut in mir entfacht. Die Insel von Herta Ro­binson liegt in fernem Dunst. Auf dem Truppenübungsplatz Anfang Oktober passiert der Unfall. Der rechte Knöchel ist ein Ballon. Bei der Rückkehr erreicht mich ihre Flaschenpost.

 

Nach anderthalb Jahren schickte ich ihm endlich das versprochene Passbild. Lange ersehnt gab es nun den Rückkampf bei seinem deutschen Verein in K. Wir mussten uns einfach treffen, diesmal gab es keine Ausrede.

 

Freitag mittags schleiche ich mich mit Krücken aus dem Sanitätsbereich. Um 12 Uhr nimmt mich Pe­ter K. für einen halben Monatslohn mit nach K. Ich humple durch die nächtlichen Straßen, fünf Ki­lometer entfernt brennt Licht im Hause meiner Mutter. Der Wirt in der Vereinskneipe sagt, dass die Österreicher am nächsten Morgen um acht kämen. Um ein Uhr bin ich im Stadtpark, die Luft ist warm und bewegt. Ich liege auf einer Parkbank, Blätter rauschen auf mich nieder. Gegen halb vier fängt es an zu regnen. Den Rest der Nacht verbringe ich nach einer kurzen Zugfahrt im Hauptbahn­hof von S. Vor acht bin ich im Stadion. Der Bus kommt fast pünktlich. Als erste kommt fröhlich ein hübsches Mädchen über den Rasen gelaufen. Den Lurchi auf ihrer Trainingsjacke habe ich gekauft und ihr geschickt. Ich lächle sie an. Sie lächelt fremd zurück.

 

Ich hatte ihn mir ganz ehrlich gesagt anders vorgestellt, ohne Bart und ohne Krücken. Ich war so fertig, ich konnte einfach nicht anders, mir tut heute noch das Herz weh, wenn ich daran denke.

 

Petra muss Herta Robinson von ihrer Insel holen. Obwohl ich auch Petra seit eineinhalb Jahren nicht mehr gesehen habe, muss sie mich vermitteln. Wir reden belanglose Dinge, dass wir uns verändert hät­ten und wie es uns ginge... Dann muss sie kurz weg. Nach eineinhalb Stunden humple ich  über die Aschenbahn, drücke ihr einen Gedichtband in die Hand und verlasse Herta zum zweiten Mal in mei­nem Leben.

 

(Günter Krehl 28. Mai 1996 und 27. /28. Mai 1997)